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28. Gedenktag für verstorbene Drogengebrauchende

Streeck: „Hinter jeder Zahl steht ein Schicksal“

Der 21. Juli ist nationaler Gedenktag für verstorbene Drogengebrauchende. In vielen Städten, Gemeinden und Kommunen wird an die Verstorbenen mit Aktionen und Gedenkminuten erinnert. Bei einer Veranstaltung eines Berliner Bündnisses aus Drogenhilfen und VereinenExterner Link auf dem Oranienplatz hielt der Sucht- und Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Prof. Dr. Hendrik Streeck, eine Rede (es gilt das gesprochene Wort):

"Sehr geehrte Damen und Herren, 

Wir sind heute hier zusammen zu kommen, zum Anlass des Gedenktages für all jene, die an Drogenkonsum verstorben sind.

Dies ist ein trauriger Tag. Dies ist ein schwerer Tag. Dies ist aber auch ein wichtiger Tag. Wir gedenken heute 2137 uns bekannten Schicksalen von Menschen, die im Jahr 2024 Ihr Leben aufgrund des Drogenkonsums verloren haben. 

Ich sage “uns bekannten”, da wir davon ausgehen müssen, dass in dieser offiziellen Statistik nur ein Teil und nicht jedes Schicksal enthalten ist.

Wir gedenken aber auch den Menschen, die in den Jahren zuvor an ihrem Drogenkonsum verstorben sind -geschätzte 15000 Menschen hier in Deutschland in den letzten 10 Jahren. Hinter dieser nackten Zahl stehen viele traurige Schicksale. Hinter diesen Zahlen stehen bedrückende Lebensgeschichten. Und hinter jeder einzelnen Zahl steht eine Familie, ein Vater, eine Mutter, ein Bruder oder eine Schwester, ein Ehepartner oder Geliebter, der diese Person verloren hat.

Sie alle lassen viele Menschen zurück - in Trauer, in Schmerz und aber oft auch Wut. Wut über die Drogen, Wut auf die eigene Hilflosigkeit den geliebten Menschen nicht helfen zu können. Diese Wut, diesen Frust, diese Trauer spüren auch all jene, die im gesamten Hilfesystem um diese Menschen gekämpft haben. Den Sozialarbeitern in der Suchthilfe, den Streetworkern, den Rettungssanitätern und -sanitäterinnen in den Notaufnahmen.

Allen Betroffenen möchte ich mein Mitgefühl aussprechen, insbesondere denjenigen, die einen nahestehenden Menschen verloren haben. 

Es sterben viel zu viele Menschen am Konsum illegaler Drogen. Die Zahlen sind in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen und bewegen sich auf einem erschreckend hohen Niveau: 2137 Menschen. Jeden Tag verlieren wir sechs Menschen. Auch heute. Vielleicht auch hier in Berlin. Es schmerzt, dass wir uns an solche Zahlen schon fast gewöhnt haben. 

Die Entwicklung ist alarmierend, denn: Noch nie wurden bei Verstorbenen so viele unterschiedliche psychoaktive Substanzen gefunden wie im vergangenen Jahr. Noch nie war der Mischkonsum so stark verbreitet – mit vier, fünf, manchmal sechs Substanzen gleichzeitig. Noch nie wurden auch in Deutschland bei so vielen Verstorbenen synthetische Opioide und andere synthetische Drogen festgestellt.

Und: Die Zahl der Drogentoten unter 30 Jahren ist um 14 % gestiegen. Junge Menschen konsumieren gefährlicher denn je. Jugendliche verlieren ihr Leben schon bevor sie es richtig gelebt haben. Die Drogen werden immer stärker, immer unvorhersehbar und sind immer leichter zu bekommen. Durch Globalisierung, Digitalisierung und KI kommen immer schneller, immer mehr, immer problematischere Stoffe auf den Markt. 

Laut letztem Weltdrogenbericht konsumieren rund 316 Millionen Menschen weltweit illegale Drogen – so viele wie nie zuvor. Somit wächst der Anteil der Bevölkerung, die Drogen konsumiert, schneller als die Bevölkerung selber. Als Arzt macht mir das große Sorgen. Als Wissenschaftler sage ich: Wir brauchen eine Strategie, um die Drogentoten in Deutschland nachhaltig zu senken. 

Wir dürfen nicht dieselben Fehler machen wie in der Pandemie: zu spät erkennen, zu spät reagieren, zu lange auf Sicht fahren. Schritt Nummer eins ist, dass wir schneller, systematischer und konsequenter verstehen, was überhaupt los ist und uns in die Lage versetzen, kurzfristig und zielgenau zu warnen:

Wir brauchen ein bundesweites Monitoring und Frühwarnsystem, das quasi in Echtzeit reagiert! Zweitens brauchen wir dringend mehr Aufklärung und Prävention, die dort ankommt, wo sie gebraucht wird: in Schulen, in der Jugendarbeit, in der digitalen Welt.

Und wir müssen uns um diejenigen kümmern, die bereits Drogen konsumieren, dass sie im besten Fall vom Konsum wegkommen oder aber sie vor falschen und gefährlichen Konsum schützen. Deshalb brauchen wir in Deutschland eine gestärkte Suchthilfe. Dazu gehören Beratungsstellen, dazu gehören niedrigschwellige Angebote wie Drogenkonsumräume, Drogenkonsummobile, wie es sie hier in Berlin auch gibt, Spritzentausch – und dazu gehören auch ganz schlicht Unterkünfte und Essensausgaben.

Im Vergleich mit den anderen Ländern, haben wir bereits ein gut funktionierendes System mit zutiefst emphatisch arbeitenden Menschen in der Suchthilfe! Das dürfen wir keinesfalls kaputtsparen! Es geht um eine Suchthilfelandschaft, die alle Menschen, die Hilfe bei der Bewältigung von Suchterkrankungen braucht, anspricht, mitdenkt, einbezieht und unterstützt. Ihnen hilft die Angebote zu navigieren, und zwar früh, bevor der Strudel nach unten kaum noch kontrollierbar ist. 

Meine politische Herzensangelegenheit ist, dass wir in Deutschland schnell und beherzt gegensteuern. Wissenschaftsbasiert und ohne Ideologie! Meine ärztliche Herzensangelegenheit ist es, auch die Menschen zu stützen und zu stärken, die an letzter Front für diese Leben kämpfen, jeden Tag. Aber am wichtigsten ist mir meine menschliche Herzensangelegenheit als Bürger, nicht die Augen zu verschließen, Hinzuschauen -  auch wenn es weh tut, wenn es unangenehm ist.

Wenn wir diese Menschen aus dem Blick verlieren, gehen sie uns verloren.Meine Damen und Herren, hier und jetzt geht es ums Innehalten. Um das Gedenken. Um einen Moment der Stille. 

Damit wir in allen anderen Momenten, jeden Tag, anpacken, handeln und nicht still sind über das, was wir für Menschen mit Suchterkrankungen tun können. Und müssen! 

Danke für Ihre Anteilnahme."